Pippelwichs der Woche

Jede Woche widmen sich die fleißigen Pippelwichser einem Thema. Vorgaben gibt es dabei nicht. Das Thema kann ein Schlagwort, eine Fragestellung, ein Bild, ein Geruch oder was auch immer sein. Die freie Assoziation der Beteiligten führt zu meist hanebüchenen Ergebnissen, die hier miteinander verglichen und deren Qualitäten in wüsten Abstimmungsritualen vom geneigten Leser bewertet werden können.
Viel Spaß beim Pippelwichs der Woche!

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PIPPELWICHS DER WOCHE: ADELSGESCHLECHTER vs. GROßE KUNST

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Beitrag von Leberecht von Kotze:
Konjunktiv und andere Missgeschicke

Wenn ich ein anderer wäre, als der, der ich bin, wäre ich überrascht, dass kein anderer vor mir die Geschichte eines der unbedeutendsten Adelshäuser der Welt erzählt hat. Bin ich aber nicht. Und wenn ich später mal als ein anderer als der, der ich jetzt bin, zurückblicke, werde ich nicht ohne eine gute Prise Genuss feststellen, dass zwar ich aber eben doch auch ein anderer (als mein Dann-Ich) die Geschichte eben doch schon erzählt hat. Und ich werde nicht überrascht sein, sondern einfach milde und wissend lächeln, weil mir das so verdammt gut steht.
Höre ich da jemanden fragen, warum die Geschichte bisher noch nicht erzählt wurde? Nicht? Gut. Ich werde es trotzdem erklären. Warum? Weil ich kann. Zum einen ist das Ende der Geschichte ein bisschen seltsam, was Erzähler bekanntermaßen noch mehr verschreckt als ein nicht minder seltsamer Beginn. Zum anderen ist es einfach keine schöne Geschichte im Sinne einer launigen Erzählung mit spannendem Handlungsstrang. Man könnte sogar soweit gehen zu behaupten, dass es wortspielaffine Schöngeister gäbe, die behaupteten, dass die deutsche Sprache eben dieser Geschichte das wenig schmeichelhafte „Unter“ in Unterhaltung zu verdanken habe. Nur sei diesen Schöngeistern gewohnt frivol zugerufen: Haltet eure bekackte Fresse, ihr Scheißhaufen!
Also wenden wir uns einem anderen Scheißhaufen zu, nämlich demjenigen, von dem diese Geschichte handelt. Er steht jenem unglamourösesten und am würdelosesten verarmten Zweig des vor vielen Generationen schon rammdösigen Landadelsgeschlechts vor, dessen Gründungsvater aus leicht nachvollziehbaren Motiven dereinst gerne den Satz geprägt hätte „Namen sind nur Schall und Rauch!“, woraufhin sich die höhnische Antwort anböte: „Das wünschst Du Dir wohl, dass Du Schall oder Rauch hießest!“ Denn Zeit seiner bemitleidenswerten Historie kämpfte der gesamte Clan nicht zuletzt aufgrund des beknackten Familiennamens vergeblich gegen Vorurteile, Verunglimpfungen, schlechten Atem und die Langzeitschäden extensiver Inzucht.
Und so wurde in der hier besungenen Sippe neben Degeneration, mangelnder Zahnhygiene und einem heruntergekommenen Landsitz im Schwäbischen auch Verbitterung und tief sitzender Hass von Generation zu Generation weitervererbt. Und da wir aus der Genforschung (oder aus der Bravo) wissen, dass Verbitterung und Hass zu den nicht nur dominanten sondern superduperobermegadominanten Erbinformationen gehören, verstärkte sich die Abscheu gegenüber allem Menschlichen (Allzumenschlichen) bis zu dem Zeitpunkt, an dem unsere kleine Episode einsetzt – beim aktuellen Familienvorstand, der natürlich niemals anders heißen dürfte als Hugo von Hinten.
Was sich wohl schon aus dem bisher ge- und beschriebenen ergeben könnte, aber auch der weniger vernunftbegabten Leserin an dieser Stelle noch einmal unter die abscheulich knubbelige Nase gerieben werden soll: Hugo von Hinten war kein besonders fröhlicher, freundlicher und umgänglicher Typ. Nein, nein, ganz im Gegenteil: Zu sagen, er sei das Letzte gewesen, würde dem Ersten und Besten in höchstem Maße Unrecht tun, da nichts Gutes mit ihm in einer Reihe stehen dürfte. Oder um es in den elegant verklausulierten Worten zumeist gut informierter und wohl temperierter Wortspieler auszudrücken, denen ich bald ordentlich ins Zentralmassiv trete, wenn sie sich nicht aus meiner Geschichte raushalten: Man könnte meinen, eben dieser Hugo von Hinten und seine verkommene Sippschaft seien der Grund dafür, dass es nicht Adelsgegut heiße. Und noch mal anders und ebenso auf den Punkt gebracht: Hugo von Hinten ist so uncharmant, dass es nur einen Grund dafür gibt, dass er bislang noch keine minderjährige Tochter eines guten Freundes aufs Widerlichste und Erbärmlichste geschändet hat: er hat einfach keine Freunde.
Wenn wir diese Episode nach ermüdend langem Aufbau dann nun endlich an der Stelle beginnen lassen würden, an der sie beginnt, säße Hugo in einem von mehreren (De)Generationen derer von Hinten vollkommen verwarzten Ohrensessel und grummelte Hasserfülltes. „Die Menschheit wird sich noch wundern“, könnte man ihn grummeln hören, wenn er darauf wert legte, gehört und verstanden zu werden, was durchaus Sinn machen würde angesichts der Tatsache, dass er vor seiner versammelten Familie spricht, die an einer langen Tafel aufgereiht vollkommen davon überfordert ist, den Ausführungen des Clan-Oberhaupts zu folgen und sich lieber (selber und gegenseitig) in Ohren, Nasen und sonstigen verfügbaren und gerade zugänglichen Körperöffnungen bohrt. „Seit Jahrhunderten lachen uns die Menschen aus. Kein Witz ist ihnen zu platt, keine Anfeindung zu plump, kein... Horst, nimm sofort den Finger da raus!“
„Aber die kleine Hilde mag das“, antwortete die kleine Hilde.
Hugo war in seinem Gedankengang unterbrochen worden, was er so wenig schätzte wie Fäkalschmierereien im Wohn- und Essbereich des Landsitzes. Leider kam beides ständig vor. Angewidert starrte er seine Blagen an und überlegte wieder mal, wo er die Flasche mit dem billigen Wacholder und das alte Jagdgewehr seines Großvaters gelassen hatte. Irgendwann würde er es wiederfinden. Die Hoffnung zauberte kurz ein verträumtes Lächeln auf seine verbitterten Züge.
„Hört mir zu!“, imperativte er, ohne damit irgendeine Wirkung zu erzielen. Die kleine Hilde quiekte vergnügt, weil inzwischen neben Horst auch die dicke Heike mit ihren immer schwitzigen Wurstfingern gewohnt unbeholfen und schamlos an ihr rumpopelte. „Unsere Zeit wird kommen. Bald schon, das spüre ich nicht nur, ich habe sogar einen konkreten Plan. Schon bald lassen wir uns nicht mehr herumschubsen. Schon sehr bald sagen wir, wo es lang geht. Und dann trinken wir Blut aus den Schädeln unserer Feinde.“
Hugos Frau (und Schwester) Heidrun hielt den Kopf schräg und war mit ihrem rechten Zeigefinger bis übers zweite Gelenk auf Entdeckungsreise in ihrem linken Nasenloch, die sie kurz unterbrach, um zu überlegen, ob das Blut ihrer Feinde wohl besser schmecken würde als der saftig-schorfige Klumpen, dem sie schon so lange auf der Spur war und den sie sich einverleiben würde, sobald sie ihn hervorgezaubert hatte.
Mit einer für ihn ungewöhnlich energischen Bewegung stemmte sich Horst aus seinem Sessel und stand nun vor seiner versammelten Sippschaft. Der debile Holgi klatschte laut lachend Beifall für das unerwartete Aufstehen, während Horst sich in einer spannenden Mischung aus Angst vor und Vorfreude auf einen möglichen Wutausbruch seines Vaters unter den Tisch verkroch und genüsslich einnässte. Aber anstatt den schweren Ledergürtel aus der Hose zu ziehen (die er aus Respekt vor der Lebensleistung seines alten Saufkumpanen Bärlauch schon lange nicht mehr getragen hatte sondern auf dem versifften Fußboden aufbewahrte), wandte sich Hugo einem Flip-Chart zu, das bis zu diesem Zeitpunkt einfach nicht da war, weil es nicht gebraucht wurde.
Mit einer Geste, die er für staatsmännisch oder zumindest weltgewandt hielt, griff Hugo das Deckblatt und machte eine effekthascherische Pause, die die dicke Heike zu einem laut krachenden Furz nutzte, was den debilen Holgi noch deutlich mehr begeisterte als das Aufstehen seines Vaters. Geräuschvoll versuchte er, eine möglichst große Prise der modrig-gammligen Blume aufzusaugen. „Ich weiß, dass ihr keine Ahnung habt, was das bedeutet“, setzte Hugo seinen Sermon unbeirrt fort und schlug dabei das Papier um, „aber ich kandidiere für den Kreistag!“ Auf dem Flip-Chart kam ein mit zittrigen Edding-Strichen gezeichnetes Mondgesicht mit struppigem Haar und leerem Gesichtsausdruck zum Vorschein, das vermutlich ein wenig gelungenes Selbstporträt von Hugo sein sollte, darunter sein nicht minder krickelig geschriebener Wahlkampf-Slogan: „Von Hinten an die Macht!“
Mit Stolz geschwellter Brust und leuchtenden Augen schaute Hugo auf den genetischen Abfall an seiner Tafel. Bis auf den debilen Holgi, der ein fröhliches Glucksen von sich gab, schien niemand von ihm Notiz zu nehmen. Sogar der immer noch unter dem Tisch kauernde Horst hatte seine Angst und Ehrfurcht schon wieder vergessen und es sich stattdessen unter dem langen und wallenden Kleid seiner Mutter (und Tante) bequem gemacht. Hugo sparte sich deswegen, weiterzublättern und seinen zweiten Entwurf zu zeigen, obwohl er auch auf den Slogan „Euthanasie – jetzt oder nie!“ sehr stolz war.
„Wir werden es allen zeigen, die glauben, sie könnten uns dumm kommen“, monologisierte Hugo unbeirrt weiter, nicht weil er sich von seiner verkommenen Verwandtschaft irgendeine Reaktion erwartet hätte, sondern in erster Linie, weil er dem Autor und seinen Lesern direkte Rede schenken wollte. „Vom Kreistag ziehe ich weiter in den Landtag, von da aus weiter in den Reichstag, oder wie das heißt, und dann werden wir das System umstürzen und zur Aristokratie zurückkehren. Und wisst ihr, was das Teuflisch-Geniale an meinem teuflisch-genialen Plan ist?“
Holgi überlegte kurz, hob dann den mit einer braun-grauen Ekel-Kruste überzogenen rechten Zeigefinger zum Zeichen der Meldung in die Luft, wurde aber von Hugo gekonnt ignoriert, so dass er den Zeigefinger wieder runternehmen und zufrieden daran schnüffeln konnte.
„Das Teuflisch-Geniale ist, dass ich zwar nicht auf euch Gen-Gemüse angewiesen, aber trotzdem nicht alleine bin.“ Hugo kicherte kurz, wie Menschen eben in sinnentleerten Monologen kichern, wenn sie teuflisch-geniale Pläne oder zu viel getrunken haben. „Ich habe verbündete nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa. In Ostpreußen lebt mein Schwipp-Schwager Gustav von Gestern, und die Niederlande werden schon lange von meinem Cousin Vick van Achtern unterwandert. Wenn dann noch mein englischer Onkel Richard – genannt Dick – Earl of Cocksuck und Tante Vagina Intraepithelia Neoplasia ihre Hausaufgaben machen, werden wir den ganzen Laden übernehmen.“Während Hugo von Hinten detailliert erklärte, wie die neue Weltordnung aussehen würde, wenn er erst am Ziel seiner Träume wäre, und lange bevor eine namenlose international gefeierte Performance-Künstlerin auftauchen konnte, um dieser Erzählung etwas Tiefe, eine erstaunliche Wendung und endlich mal etwas Handlung zu verleihen, passierte etwas vollkommen Unerwartetes und beendete diese Geschichte. Seltsam, oder?

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Beitrag von The Incredible Dieter:
Egozentrizität und Mystik

Große Kunst, dachte Eduard Freiherr von Stein, als er sich im Spiegel seines mondänen Bades nach dem Duschen begutachtete, nicht schlecht so ein Adelsgeschlecht. Dann rubbelte er sich ab, begab sich in sein Ankleidezimmer und zog seine Tracht an. Er sah auf seine goldene Taschenuhr mit dem Wappen der Familie und dachte sich: Eile eilig in den Speisesaal! Zeit für das Spätstück.

Dort angelangt ließ Eduard sich am Kopf der Tafel nieder und brüllte:
„Johann! Wo stecken sie?“
Keine kleine Ewigkeit später stand der Livree-tragende Butler, ganz so als wollte er das nächste Klischee erfüllen, neben seinem Herrn.
„Herr Freiherr“, sagte er ohne sich sonderlich Mühe zu geben, das `h´ zu betonen, „Sie wünschen?“
„Sie vertrockneter Pferdehoden, von einem Leibeigenen“, antwortete von Stein, „was denken Sie, was ich wohl wünsche, wenn ich am späten Morgen an der Tafel sitz?“
„Tafelspitz?“, fragte der freche Lausbub Johann.
„Kein Witz. Wenn ich bitten darf“, erwiderte Eduard schon leicht enerviert.
„Sie dürfen, mein Herr. Verzeihen Sie dieses kleine Wortspiel, doch ich befürchte, mich kitzelte der Schalk im Nacken. Das mag wohl daran gelegen haben, dass ich bis zu Ihrem schrillen Schrei an meiner kleinen humoristisch durchaus nicht zu verachtenden Novelle saß.“
„Wenn Sie jetzt noch etwas mit Forelle sagen, haue ich Ihnen auf´s Maul. Ihr arg nach Kracht klingendes Geschreibsel juckt doch wirklich keine Sau. Ich will jetzt essen. Mir steht der Sinn nach Labskaus.“
„Eine hervorragende Wahl“, entgegnete Johann.
„Wo steckt meine Frau?“
„Sie sind geschieden, Herr Freiherr.“
„Das weiß ich“, herrschte von Stein ihn barsch an, „halten Sie mich für einen senilen, alten Bock? Und sagen Sie mir ja nicht, was Sie wirklich denken.“
„Natürlich nicht.“
„Ich habe gefragt, wo Sie steckt.“
„Soweit ich weiß, und diese Information erhielt ich gestern vertraulich vom Zimmermädchen, befindet Sie sich zum Baden in Baden-Baden.“
„Jetzt reicht´s“, rief Eduard, sprang mit einer für sein Alter erstaunlichen Virilität aus dem Sessel und zimmerte Johann voll eine rein, worauf dieser unsanft zu Boden ging. Danach ließ sich von Stein geschmeidig und schön langsam auf seiner Sitzgelegenheit nieder und sagte mit einem Hauch Zufriedenheit in der Stimme: „Und nun bringen Sie mir gefälligst einen schönen Teller Labskaus.“
Nachdem sich Johann, der sich an die Manieren seines Herrn bereits reichlich gewöhnt hatte, wieder aufgerappelt hatte, murmelte er: „Jawohl, Herr Freiherr. Haben Sie trainiert?“
„So ist es. Und zwar mit `Ready 2 rumble revolution´ auf meiner blattvergoldeten Wii. Und nun ziehen Sie Leine!“
Johann verließ den Speisesaal leicht taumelnd und von Stein fragte sich, warum es nur so schwierig war, gutes Personal zu finden. Zumindest günstiges. So wie damals als er sich um ein Aupair-Mädchen umschauen wollte, ihm aber die unfreundliche Dame der Agentur barsch eine Abfuhr erteilt hatte, nur weil von Stein keine Kinder besaß. Er schlug die Zeitung auf und überflog die Todesanzeigen.
Sieh mal einer an, die von Buddelschwigg hat es dahingerafft, die alte Lesbe. Hm, vielleicht sollte ich mich bei der Beerdigung blicken lassen. Ach quatsch! Zu meiner Beerdigung wäre die alte Schachtel auch nicht gekommen. Das hat sie nun davon, dass sie mit mir nicht zum Abschlussball gehen wollte.
Warum von Stein so dachte, ist nicht überliefert. Als er schließlich ein paar Seiten weiter geblättert hatte, stieß er auf etwas Bemerkenswertes.
„Eiderdaus!“, stieß er plötzlich und nur für sich selber aus, da er am liebsten ohnehin sich selbst sprechen hörte. „Ein Schriftstellerwettbewerb. Das wäre doch was. Endlich könnte ich einmal der ganzen Welt zeigen, welch großer Geist ich bin.“
Als Johann mit dem Labskaus wiederkehrte, war Eduard so in Gedanken versunken, dass er dessen Erscheinen gar nicht bemerkte.
„Mein Herr, ihr Labskaus.“
„Ja, danke. Stellen Sie es hin.“
Johann tat wie ihm geheißen und entfernte sich wieder. Der Freiherr speiste in beachtlicher Geschwindigkeit, ohne seine Augen von der Ausschreibung abzuwenden.
Soso, dachte er sich, der Gewinner erhält einen Auftritt bei Markus Lanz. Stark. Ich muss schnell hoch in mein Arbeitszimmer und meine Manuskripte durchsehen.
Eduard erhob sich von der Tafel und eilte in den gewünschten Raum. Dort angelangt öffnete er hastig den Sekretär und durchwühlte einen Stapel von Texten, die er einmal aus Übermut und Langeweile angefertigt hatte.
Sodomie, Vergewaltigung, Fäkalsprache, murmelte von Stein, das ist doch alles Dreck! Mal sehen, wie es um die älteren Texte bestellt ist.
Doch auch diese fanden sein Plazet nicht. Es musste ein Kracher sein, etwas bisher noch nicht Dagewesenes. Aber dem Freiherrn fehlte die Inspiration. Erschöpft ließ sich in seinem Stuhl nieder und grübelte. Lange. Sehr lange.
Plötzlich sprang er auf und schrie:
„Haireka!“ Leider war niemand anwesend, um ihn zu korrigieren.
Das ist es, triumphierte Eduard innerlich. Ich werde mir mal unbemerkt die Aufzeichnungen von Johann ansehen. Dazu muss ich ihn unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand aus dem Anwesen treiben.
Er griff beherzt zu seinem Glöckchen und schüttelte dieses stürmisch, bis Johann, völlig außer Atem, erschien.
„Sie wünschen, Herr Freiherr?“, fragte dieser.
„Johann, soeben fiel mir ein, dass ich noch heute dem Pastor meine Spende für `Kuchen für die Welt´ zukommen lassen muss. Sie müssen sie ihm auf der Stelle vorbeibringen?“
„Moment mal“, wandte der Diener ein, „aber Sie haben doch noch nie gespendet. Selbst nicht, um Steuern zu sparen.“
Mist, dachte von Stein verärgert, jetzt hat er mich, dieser Schlingel. Komm schon Steini, lass dir etwas einfallen!
„Aber letzte Nacht“, fuhr er fort, „hatte ich einen Traum. Es ging um eine Echtholz-Einbauküche im Bergischen Land.“
Johann sah seinen Herren mehr als irritiert an.
Mist, Steini, fuhr sich der Freiherr innerlich an, er sieht dich so an, als würde er gleich die Männer mit den weißen Jacken rufen. Reiß dich zusammen!
„Du weißt natürlich nicht“, sagte der Freiherr mir erstaunlicher Ruhe, „dass eine Echtholz-Einbauküche im Bergischen Land in der Traumforschung eine Metapher für die Buße ist. Also kurz, ich muss Buße leisten.“
Johann schien nur unwesentlich beruhigt zu sein und fragte: „Wegen der Schülerin?“
„Du hirntoter Schimpanse“, herrschte ihn Eduard an. „Nein, für mein Leben, für all die Fehler, die ich begangen habe. Hier nimm diesen Scheck und dir meinetwegen noch ein Snickers für den Weg und dann ab zum Pastor. Und nun keine Widerrede oder dummen Fragen mehr. Sonst musst du heute Abend wieder mit der Hornhautraspel ran!“
Johann sah ein, dass es besser war, sich seinem Schicksal zu fügen und machte sich auf den Weg. Von Stein beobachtete ihn durch sein Arbeitszimmerfenster hindurch, bis er im Wald verschwunden war. Dann schlich Eduard in den Flügel, wo die Angestellten untergebracht waren, und betrat Johanns Kammer.
Wo hat dieser lebende Spendenaufruf bloß sein Geschreibsel, fragte er sich. Ui, wie das riecht!
Der Freiherr durchwühlte des Knechts Unterlagen und fand schließlich, was er suchte. Ungläubig las er sich den Titel des Pamphlets vor: `Der Fremde und der Einsame´, soso. Na, das kann ja nur Schund sein. Aber vielleicht inspiriert es mich ein wenig.
Von Stein schob das Manuskript unter das Wams und schlich elfengleich zurück zu seinem Arbeitszimmer. Dort angelangt verriegelte er die Tür, ließ sich in seinem Sessel nieder, lachte kurz diabolisch ob seiner Verruchtheit und begann mit der Lektüre:
`Es gibt da einen Fremden. Frag nicht, woher ich das weiß. Und frag nicht, woher ich ihn kenne, denn ich kenne ihn nicht, er ist – auch mir – vollkommen fremd.´
So ein Schund, dachte der Freiherr, schon der erste Satz muss krachen und das hier ist ja schon mal Mist. Es sei denn, er meint mit dem Fremden mich, dann ist es natürlich ganz große Kunst. Aber so. Da war ja dagegen der Beginn meiner Fuge `Ulcus molle´ hochklassig.
Eduard las weiter, jedoch ohne noch das Geringste zu erwarten. Wider Erwarten traf er kurze Zeit später doch auf eine Stelle in der Novelle, die ihn schmunzeln ließ:
`Doch dann, genau an dem Tag, als seine Eltern den erst wesentlich später und zu diesem Zeitpunkt noch völlig unvorhersehbar zum Fremden werdenden Kleinen, auf dessen Namen sie sich noch nicht hatten einigen können, aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen wollten, kam ihnen etwas Doofes dazwischen. Also verließen sie das Krankenhaus ohne ihren Sohn und überließen ihn einer vollkommen überforderten, tablettensüchtigen Krankenschwester.´
Fein, schmunzelte von Stein, das hätte ich diesem Primaten gar nicht zugetraut. Wahrscheinlich hat er es irgendwo abgeschrieben. Folglich ist es auch nicht verwerflich, wenn ich es selber weiterentwickele. Natürlich werde ich es verfeinern, gar vergolden. Und er darf sich schließlich glücklich schätzen, dass ich etwas von ihm für wert betrachtete, diesem meine Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Freiherr schaute in einen seiner vielen Spiegel. Ihm gefiel, was er sah, zwinkerte der Person zu und schürzte seine Lippen zu einem Kussmund. Dann vertiefte er sich wieder in das Manuskript und machte sich eifrig Notizen. Anschließend begann er wie ein Besessener auf seiner Schreibmaschine loszuschreiben, besser gesagt zu hacken. Von der Inspiration seines Lakaien war nicht mehr viel übrig geblieben. Der Fremde wurde zu einem Fäkalsprache nutzenden Widerling, der Einsame wurde für so einen schalen Jokus wie `Einsamer sucht Einsame zum Einsamen´ geopfert und auch die Eltern interessierten den Freiherrn herzlich wenig. Dafür umso mehr die tablettenabhängige Krankenschwester, der er sogleich einen Hang zur Sodomie und Negrophilie andichtete, die sich zu allem Überfluss auch noch an dem wehrlosen Fremden, der mittlerweile Franz-Josef hieß und querschnittsgelähmt war, verging. Der ganze Text wimmelte von pubertären Witzen über Ausdünstungen und Ausscheidungen und dem Betasten von sowie dem Kratzen an Genitalien. Als der Graf schließlich spätnachts sein magnum opus fertiggestellt hatte und noch einmal Korrektur las, so gut wie ihm dies eben möglich war, beömmelte er sich herzhaft und klopfte sich mehrfach siegesgewiss auf die Schulter. Dann tütete er sein Manuskript und legte es in den Postausgang für den nächsten Tag.
Mann, bin ich geil, dachte sich Eduard, nachdem er sich zu Bett gelegt hatte. Endlich wird mir die Aufmerksamkeit und Bewunderung zuteil, die einem uomo superiore wie mir gebühren. Hach, wird das herrlich! So viel herrlicher als dieses triste Dasein jetzt.
Dann übermannte ihn der Schlaf und ihm träumte...

Er saß im Studio neben Markus Lanz, der sich ausführlich nach der Entstehung seines Meisterwerks erkundigt hatte, welches die Begegnung ja überhaupt erst ermöglicht hatte. Von Stein hatte Bescheidenheit vorgeheuchelt und gesagt, dies hätte ja auch jeder andere schreiben können. Der Moderator umschmeichelte ihn, und das Publikum lag ihm zu Füßen. Natürlich war der Freiherr der einzige Gast der Sendung. Kurz, es war die Erfüllung all seiner Träume und Sehnsüchte.
Doch plötzlich drehte der Wind. Dieser Janus-Moderator Lanz schlug völlig unvermittelt einen ganz anderen Ton an und bohrte so richtig investigativ nach. Da wäre es Eduard sogar noch lieber gewesen, wenn sie zusammen gekocht hätten.
„Wie man aus verschieden Kreisen hört“, hob Lanz messerscharf fragend an, „sind Sie jedoch auch ein Freund der feudalen Standesordnung und der Leibeigenschaft?“
Von Stein sah den Moderator mit offenem Mund und weiten Augen an. Was sollte das? Die Stimmung kippte ohne Vorwarnung und das eben noch wohlgesonnene Publikum ließ Zwischenrufe wie `Pfui´ und `widerlich´ von sich vernehmen.
„Ich äh, also nein… also ja, gewissermaßen“, stammelte der Freiherr, nachdem er bemerkt hatte, dass er nicht länger schweigen konnte. Er wünschte sich Günther Jauch.
„Was meinen Sie, Herr von Stein, mit gewissermaßen?“, fragte der Großinquisitor.
„Also, dass wir doch alle samt Leibeigene sind“, versuchte Eduard sich herauszureden.
„Wie soll ich das verstehen?“, fragte dieser – in Eduards Augen – pseudosouveräne Lackaffe.
„Naja, ganz einfach. Gehört uns nicht allen unser Leib, also unser Körper?“
Von Stein wurde sicherer und setzte nach: „Dementsprechend sind wir doch Leibeigene. So wie das damals diese Schnepfen in den frühen Siebzigern behaupteten. Und natürlich gehört unser Leib dem allmächtigen Schöpfer.“
Der Freiherr lehnte sich zufrieden zurück, doch Lanz ließ ihm nur einen kurzen Augenblick der Befriedigung und hakte unerbitterlich nach: „Schnepfen? Ich habe mich wohl verhört!“
Das Publikum machte erste Anstalten eines Aufstandes. Seinen Kredit hatte von Stein eindeutig verspielt.
„Ich meine das als Ornithologe, verstehen sie mich nicht falsch“, sagte er.
„Aber Sie sind doch Anhänger einer Ständegesellschaft, die wir doch schon längst überwunden und durch eine egalitäre Gesellschaft freier Individuen ersetzt haben?“
„Auch da, werter Herr Lanz, müssen Sie genau hinschauen. Ich bin für die Aristokratie. Aber eben im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich der Herrschaft der Besten.“
„Und wer“, erkundigte sich der Moderator mit zusammengekniffenen Augen, „ist dies Ihrer Meinung nach. Etwa jemand wie Sie? Der einem alten aber verarmten Adelsgeschlecht entstammt?“
„Selbstverständlich. Oder meinen sie etwa die Sozen, deren Wähler oder die Neureichen? Die haben doch alle gar nicht die Zeit sich ihr Leben über so exaltiert zu bilden wie unsereins. Das soll auch kein Vorwurf sein. Es ist eine Tatsache. Nur jemand wie ich hat auch die Muße, das Gute zu erkennen und danach die Gesellschaft zur Glückseligkeit zu führen.“
„Und diese Unwissenden…“
„…armen Geschöpfe“, ergänzte Eduard, „sind die Masse, die Mehrheit der Gesellschaft. Die wiederum dankbar für weise Menschen wie unsereins sein sollte.“
„Also wie ich?“, fragte Lanz empört.
„Ja, schauen Sie mal, Sie sind ja bloß Moderator…“
„Und unser Publikum?“
Das Raunen wurde stärker, und von Stein merkte, dass er dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden.
„Also, hören Sie. Sie missverstehen mich. Ich wollte keineswegs abfällig über jemanden sprechen. Wir können ja nichts dafür, welchen Platz in der Gesellschaft uns der Schöpfer zugewiesen hat und mit welchen Privilegien, insbesondere intellektueller Art, wir gesegnet worden sind…“
„Herr von Stein“, unterbrach ihn Lanz, „Sie sind ein Menschenverächter!“
Der Tumult wurde immer lauter. Die ersten Personen aus dem Publikum bewaffneten sich mit ihren Stühlen.
„Sehr geehrte Damen und Herren“, versuchte der Freiherr, sich zu retten, „ich liebe doch alle Menschen.“
In diesem Moment stürmten die Ersten die Bühne…

Von Stein wachte schweißgebadet auf. Es dauerte eine Weile, bis er erleichtert realisiert hatte, dass alles nur ein schrecklicher Traum gewesen war. Der Freiherr sprang aus dem Bett, streifte sich hastig seinen Morgenmantel über und rannte die Treppen hinab. Am Postausgang angelangt, nahm er sein Kuvert, zerriss es und warf es in das noch glimmende Feuer des Ofens.
Erleichtert ließ er sich auf einem Stuhl nieder und zarter Trotz regte sich in ihm:
Dieses Pack, grollte er innerlich, sie wissen Größe einfach nicht zu schätzen! Sollen sie doch an ihrer eigenen Nichtigkeit verrecken! Ich werde sie nicht retten!
Von Stein suchte wieder sein Schlafgemach auf, legte sich ins Bett und schlief mit geballter Faust nach langem Kampf ein.

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